Arbeitsbeispiele

Reportage

Geschafft! Start und Ziel – der erste Marathon
Erschienen in „Marathon. Ein Laufbuch in 42,195 Kapiteln“,
Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2004

Von wegen Flügel! Ab Hamburg-Eppendorf, also etwa ab km 37, sei die Begeisterung entlang der Strecke dermaßen überschwänglich, dass sie die Läufer förmlich ins Ziel trage, hatte es so nicht geheißen? Alles eine barmherzige Lüge, stellst du fest. Vermutlich bist du der Einzige, der das für bare Münze genommen hat, an irgendetwas musstest du dich ja festhalten. Was dir keiner gesagt hat, zumindest so direkt nicht gesagt hat, ist, dass das mit der Begeisterung zwar stimmt, du aber mit keiner Faser deines Körpers mehr in der Lage sein wirst, etwas davon aufzunehmen. …

Dein Blick ist nach dreieinhalb Stunden mittlerweile starr nach unten gerichtet, den Kopf zur Seite zu drehen bedeutet eine ungeheure Anstrengung. Die Arme ziehen sich reflexartig über die Ellenbogen hoch, sobald du versuchst, zu entspannen und sie ein paar Schritte lang hängen zu lassen. Die Hüften haben sich in einen erstaunlich komplizierten Gelenkapparat verwandelt, der offensichtlich noch funktioniert, aber nur unter Schmerzen, die du noch nie gespürt hast. Knochenkuppen reiben in Gelenkpfannen, war da früher nicht ein Gleitmittel dazwischen? Die Beine hängen an den Hüftknochen, das kennt man von anatomischen Darstellungen, aber wie sich das anfühlt, hast du nicht wirklich gewusst. Jetzt scheinen sie nur noch lose zu schlenkern, du hast keine Kraft mehr, ihnen zu sagen, macht einen Schritt nach vorn, und dann gleich noch einen. Nur noch fünf Kilometer – der reinste Hohn, wo du keinen Meter mehr schaffst.

Wer macht da eigentlich überall um dich herum einen solchen Lärm, schwenkt Fähnchen, hält selbst gemalte Kartons hoch mit Namen und Sprüchen und Ausrufezeichen, fuchtelt mit den Armen, lacht, und wo kommt überhaupt die Musik her? Du bist noch so weit vom Ziel entfernt, doch hier lachen und jubeln und hüpfen sie, als wollten sie dir schon zum Zieleinlauf gratulieren. Da, im Kreisverkehr vor der Rothenbaumchaussee, plötzlich ruft jemand deinen Namen, du erkennst den Rufenden auch sofort, mit einer erstaunlich leicht anmutenden Bewegung, ganz ohne zu schwitzen, winkt er dir zu, lacht dich an, irgendwie aufmunternd, du solltest reagieren, aber wie?

Ein müder Reflex kriecht langsam in dein Bewusstsein vor, du könntest zurücklächeln, sag was, winke einfach, geh hin, bleib einen Moment stehen, wechsle ein paar Worte. Du kriegst das alles nicht mehr geregelt, bist schon weiter, aber den Kopf hast du immerhin so weit gehoben, dass es zu bemerken war, oder? Ging nicht auch deine Hand grüßend eine Winzigkeit nach oben? Doch, du bist dir sicher. Aber du darfst nicht stehen bleiben, obwohl alles in dir danach schreit. Du willst, du willst nicht. Du willst nicht, weil du vorher schon gemerkt hast, dass alles nur noch mehr weh tut, wenn du die Bewegung stoppst, dann lieber weiterlaufen, der Kreisverkehr liegt längst hinter dir. Aber was ist denn das – ein Berg mitten in Hamburg? Woher kommt plötzlich diese unglaubliche Steigung? Du dachtest, du kennst die Gegend, aber diesen Berg hast du noch nie wahrgenommen. Wie sollst du das schaffen. Das ist das Ende.

Dein Laufpartner verlangsamt sein Tempo, er ist jetzt gut 20 Meter vor dir, er dreht sich um, will dich mit seinen Blicken heranziehen, komm, noch ein paar Schritte, bleib nicht stehen. Den gesamten Lauf über hat es so gut funktioniert, ihr seid locker zusammen gelaufen, wusstet um die Nähe des anderen, manchmal habt ihr euch unterhalten, es war so unkompliziert. Überraschend bald kam die Markierung für die halbe Streckenlänge – die ersten 21 Kilometer, eine einzige Lust! So etwas hattest du noch nicht erlebt. Alle jubeln euch zu, Volksfeststimmung, Karneval im Norden, und du mittendrin. Kein Vergleich zu deinen Trainingsläufen. 21 Kilometer schon? Das hattest du dir anstrengender vorgestellt. Alle paar hundert Meter eine andere Musik, Rockbands, Gruppen von Trommlern, Hip-Hop aus riesigen Boxen, die eine WG in Altona ins Küchenfenster gestellt hat. Kontrastprogramm bei den französischen Offiziershäusern an der Palmaille: ein Spielmannszug in adretter Kleidung und mit zackigem Dirigenten, lauter Querflöten und kleine Trommeln, ein Hauch von Basler Fastnacht. An den Landungsbrücken dann brasilianische Powermusik, Samba und gute Laune und strahlende Tänzerinnen und Sängerinnen. Aber jetzt kannst du nicht mehr. Mechanisch bewegt sich irgendetwas in dir weiter, du könntest es nicht erklären.

Endlich laufen dürfen!
Wie weit sind der Start und die Euphorie von heute Morgen entfernt: endlich laufen dürfen! Endlich damit aufhören können, alles im Kopf wieder und wieder hin und her zu wälzen. Die letzte Woche vor dem Lauf wirst du zu einem Nervenbündel, wie du es gar nicht kennst von dir. Du wirst zum Hypochonder, zum Pseudoexperten, der alle angelesenen Ratschläge nochmal gegeneinander abwägt, du lebst mit einer inneren Bremse, betrachtest dich wie in Zeitlupe, ernährst dich ganz bewusst, deine Freizeit ist sorgfältig geplant. Vor allem aber bist du nervös wie schon sehr lange nicht mehr, bis es dir einfällt: nervös wie vor einer Prüfung. Bei welchen Schulprüfungen hattest du, das ist Jahrzehnte her, zum letzten Mal so ein Gefühl? Aber jetzt machst du eine erstaunliche Erfahrung: Die ganze Woche über wartest du rastlos darauf, dass es endlich losgehen soll! Die Unruhe ist keine Angst, sondern pure Spannung, die endlich abgebaut werden will. Die letzten Tage werden unerträglich, du weißt nicht, wohin mit dir, jede Ablenkung sehnst du herbei, zugleich sorgst du umsichtig dafür, dass alle unvorhergesehenen Störungen unterbleiben. Du bist auf dich zurückgeworfen. Auf dich. Ein ungewohnter, lang in dieser selbstgewählten Ausschließlichkeit nicht mehr erlebter Zustand. Wenn du wenigstens laufen gehen könntest ...

Die letzten Tage, die letzten Nächte, du weißt es, Ruhe ist wichtig, der Geheimtipp jedoch lautet: Nicht die letzte Nacht vor dem Lauf musst du tief und lange schlafen, das wird sowieso nicht gut gelingen, entscheidend ist die vorletzte Nacht. Überhaupt die ganze letzte Woche: Hier sorgst du für das Polster, das dich ausgeruht an deinem Startplatz stehen lassen wird. Und wenn das alles stimmt, was du über richtige Ernährung gelesen hast, dann müsstest du jetzt gleich auf den Punkt konzentriert loszulaufen beginnen, voller Saft und Kraft, mit randvoll gefüllten Energiespeichern und genügend Reserven für die kritischen Phasen. Kohlenhydrate, Eiweiß, Magnesium, Fruchtzucker... – letzter Check des Mechanikers vor dem Rennen, kleiner Klaps auf die Motorhaube des Flitzers, der Daumen geht nach oben: alles top! Kann losgehen! (Das spöttische Genörgel eines erfahrenen Läufers, dieses Getue ums optimale What-to-do in den letzten Tagen und Stunden seien für Hobbyläufer deines Kalibers sowieso irrelevant – «vier Stunden, ich bitte dich!» –, hat dich nur kurz irritiert. Was weiß der schon von mir!)

Endlich also stehst du am Start, bist viel zu früh mit der U-Bahn zum Messegelände am Fernsehturm gefahren, hast das Geschiebe, die unüberschaubare Menge von Mitläuferinnen und Mitläufern, die Schlangen vor den Ein- und Ausgängen und vor den Toilettenhäuschen mit stoischer Ruhe ertragen. Ich bin Teil dieses Treibens – das war wichtig. Ganz selbstverständlich habe ich hier meinen Platz, eine eigene Nummer, ein selbstgestecktes Ziel. Ich gehöre dazu. Mit überspielter Genugtuung hast du dich an eurem Treffpunkt eingefunden, hast leicht verschämt die Routiniers beobachtet, wie sie ihr Handwerk der Vorbereitungen verrichten, ruhig und effizient.

Alle müssen mit ihrer Aufregung umgehen, verschwinden hin und wieder hinter dem nächsten Busch, alle sind aufgedreht und konzentriert zugleich. Es wird Zeit, die überflüssigen Lagen an Kleidung abzulegen und vom bloßen Körper ausgehend Handgriff um Handgriff zu tun, der dir Sicherheit gibt und der dich so in deine Socken, in deine Schuhe, in deine Hose und in dein Hemd stellt, dass du stundenlang beschwerdefrei laufen kannst. Was du nach diesem ersten Lauf wissen wirst: Die Socken sind genauso wichtig wie die Schuhe. Socken können sogar Halt geben anstatt zu verrutschen! Die erfahrenen Läufer reiben sich die Achselbeugen mit Fett ein, um dem Wundscheuern vorzubeugen. Babyöl, Vaseline, Hirschtalg und, das sagt dir deine Kochnase, auch Olivenöl, das ideale Hausmittel. Die Brustwarzen werden abgeklebt, vielleicht noch ein Schwamm in die Socke gesteckt, wer weiß, wo man ihn in Wasser tunken und er einen kühlen wird. Das war's schon.

Startschuss – und nichts passiert
Noch sind es gut 15 Minuten, doch alle stehen schon in ihrem mit Farben, Buchstaben und Ziffern gekennzeichneten Startblock. Von unserem Startbereich aus wandern die Blicke an einem massiven Backsteingebäude nach oben. Viele lehnen hier im Untersuchungsgefängnis hinter den geöffneten Fenstern am Gitter, vom ungewohnten Betrieb auf der Straße angezogen, und lassen ihre Arme nach draußen hängen. Hier unten tänzeln alle wie unruhige Pferde, die nichts sehnlicher wünschen, als dass der Start freigegeben wird, dort oben stehen sie scheinbar ruhig, mit den gleichen und doch wieder ganz anderen Gedanken. Plastikumhänge, T-Shirts, alte Laufpullover fliegen jetzt in hohem Bogen in Richtung Gehsteig, in den letzten Minuten muss sich jeder selbst warmhalten.

Der Countdown beginnt, viele zählen mit, nachdem sie ihre Bekannten noch einmal kräftig umarmt haben. Die geballte Energie verschafft sich in diesem Moment mit Macht Ausdruck, rhythmisches Klatschen, endlich dann: Startschuss. Es geht los – doch nichts passiert. Tausende von Läufern wollen über die Startlinie, und das dauert. Man könnte gelassen bleiben, schließlich wird dank Chip am Schuh am Ende zwischen Brutto- und Nettozeit unterschieden, doch das akzeptiert nur der Kopf. Ein paar Minuten später geht es wirklich los. Aber es ist eng, man muss mehr auf die Läufer neben und vor einem achten, als dass man selbst laufen könnte. Ein gewaltiger Menschenteppich beginnt sich zu entrollen, von oben muss das richtig gut ausschauen. 

Die Reeperbahn, bei Tag nicht wirklich eine Schönheit, sieht an einem Sonntagmorgen noch verhärmter aus. Wie dürftige Film-Kulissen reihen sich glitzernde Fassaden und Eingänge zu Varietes, Bars und sonstigen Etablissements aneinander, Fantasiegeschöpfe mit spärlich verhüllten Reizen leuchten einem von übergroßen Bildtafeln matt entgegen. Darunter Menschen, die nicht recht wissen, welche Woge gerade an ihnen vorbeischwappt. Dann geht es zu den feineren Bezirken in Richtung Elbvororte, in einem Bogen zur Elbchaussee und zurück Richtung Zentrum zum Hafen hinunter, an der Speicherstadt vorbei – eine Strecke, wie sie jeder anständige Touristenbus im Programm hat. Der Bus würde dann weiterfahren an die Binnenalster, über den Jungfernstieg, die Außenalster entlang. Genau diese Strecke legt auch der Strom von Läufern zurück. Überall werden die Läufer von unglaublichen Mengen begeisterter Zuschauer beklatscht und gefeiert. Wie viele Minuten das wohl am Schluss bringt, rein netto! Die Zuschauer, der Rhythmus der Musik, die Bilderbuchstrecke – das lässt das Laufen zu einer wirklich neuen Erfahrung werden.

Das Spalier vor dem Fegefeuer
Den U-Bahnhof Ohlsdorf, zehn Kilometer weiter, hattest du als markanten nördlichen Wendepunkt der Strecke oft genug auf der Karte betrachtet. Hier, bei Kilometer 31, beginnt das Fegefeuer, hatte dich dein ansonsten wenig zu Dramatik neigender Laufpartner gewarnt. Schon die letzte halbe Stunde war zäh und irgendwie blass verstrichen. Das Bürostadtviertel City Nord blieb fremd und unnahbar wie immer, selbst das letzte kleine Stück am Alsterlauf entlang war dir nur wie eine Pflicht vorgekommen. Plötzlich und unerwartet vor dem U-Bahn-Eingang dann der absolute Kontrast, laut, bunt und turbulent: Du findest dich in einem Spalier klatschender, ausgelassener, anfeuernder Zuschauer wieder. Die Begeisterung trägt dich förmlich weiter, du kannst gar nicht anders als eine gute Figur machen und mit leichten, federnden Schritten weiterlaufen. Sollte hier nicht der gefährliche Punkt für Laufmüde und Ausstiegswillige sein? Kurz nach rechts abzweigen, Treppe zum Bahnsteig hoch, und in gut 20 Minuten hat man im Zielraum den Kleiderbeutel abgeholt oder sitzt vielleicht sogar schon bequem zu Hause auf dem Sofa …

Die Zuschauer reichen dich weiter und weiter, du hast gar keine Zeit, Ausstiegsgedanken nachzuhängen, schon kommt die definitive Kehre, die Station liegt hinter dir und eine neues Stück Straße breitet sich vor dir aus. Der Jubel ist verklungen, das Fest ist vorbei, die Mühen der Ebene liegen vor dir. Du passierst das unscheinbare Schild «32», allein mit dir und dem nun weit auseinander gezogenen Feld von Läufern, und verfällst mehr und mehr ins Grübeln. Die Hüften melden sich, der linke Fuß fühlt sich seltsam an, das Abrollen geht nicht mehr so flüssig, deine Nackenmuskulatur hat sich verkrampft, jetzt, wo du alleine bist, kannst du es nicht mehr verdrängen. Wo bleibt eigentlich die Tafel «33»? Du musst sie übersehen haben, du bist ewig gelaufen seit der letzten Kilometermarkierung, eigentlich sollte gleich schon Kilometer 34 erreicht sein. Du fängst an, dich in Debatten mit dir selbst zu verstricken. Alles ist wichtig, schiebt sich durch dein müdes, mattes Hirn, und alles dreht sich um Entfernungen: die nächsten 100, die nächsten 500 Meter, ein Kilometer und noch einer. Dein Körper sackt zentimeterweise in sich zusammen, die Schritte werden kürzer, phlegmatischer, du wirst langsamer. Wozu noch laufen, Meienweg, Alsterkrugchaussee, endlose Straßen, du kommst kaum vorwärts. Jetzt könntest du aufhören, bleib einfach stehen, das wäre vernünftig.

Vergessen sind deine Trainingsläufe, die unzähligen Kilometer, die dich auf Momente wie diesen, Momente der Schwäche und des Überdrusses vorbereiten sollten. Wie oft bist du in den letzten Monaten um die Alster gerannt, durch Waldstücke, endlose Wanderwege am Wasser entlang. Ein grobmaschiges Netz von Laufstrecken hast du über deinem Wohnbezirk wie über den Waldgebieten am Stadtrand ausgebreitet. Erst allmählich wurde dir bewusst, was du dir da beschert hast. Zunächst wolltest du nur das ewige Sitzen hinter dir lassen, dich bewegen, du wolltest raus aus der Enge der Büros, aus den asphaltierten Straßen und den erdrückenden Häuserzeilen. Doch bekommen hast du noch viel mehr: ein neues Gefühl für die Stadt, vor allem aber für die Jahreszeiten und die Natur. Der Wald verändert sich, die vertraute Strecke zeigt dir ganz verschiedene Gesichter im Frühjahr und im Herbst, du spürst das Wetter, den Wind, die Sonne.

«Das kann ich auch!»
So hatte es begonnen, vor wenigen Jahren. Sonntags hast du dir für eine halbe Stunde deine alten Sportschuhe angezogen und bist losgelaufen. Allein. Ohne Plan. Einfach aus dem Bedürfnis heraus, dich bewegen zu wollen, auf andere Gedanken zu kommen und mal wieder richtig zu schwitzen. Nur die ersten paar Schritte vor dem Haus waren ungelenk, dann warst du schnell im Rhythmus und damit in dieser eigenen Welt, die jedem verschlossen bleibt, der nicht selbst läuft: hier definiert der Läufer die Umgebung, nicht diese ihn.

Als dir ein Freund erzählte, er laufe demnächst beim Marathon mit, bist du aus Neugierde zuschauen gegangen. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung unter den überraschend vielen Zuschauern, jeder gehörte sofort dazu. Möglicherweise kann man als Feierabendläufer bei einem solchen Ereignis nicht zusehen, ohne selbst infiziert zu werden. Das müsste ich doch auch können! Man geht nach Hause, ganz bequem und entspannt, das Bild der schwitzenden Läufer, die sich offensichtlich vier, fünf Stunden über die Straßen gequält haben, lässt einen nicht los, und unbewusst hat man den Vorsatz bereits gefasst: Im nächsten Jahr bin ich dabei.

Es folgen erste kleinere Läufe, dann 10 Kilometer, ein Halbmarathon, und plötzlich ist man Teil dieser ungewöhnlichen Gemeinschaft von Einzelgängern. Tausende laufen, man ist einer davon, aber man fühlt sich nie als Teil einer sich über den eigenen Kopf hinweg organisierenden und einen vereinnahmenden Bewegung oder gar einer Laufindustrie. Diese Erfahrung ist vielleicht die entscheidende: Du bist einer von Vielen, aber das macht dich nicht kleiner, das nimmt dir nichts weg, sondern – es stärkt dich. Du bleibst in jedem Moment du selbst, bestimmst, was du tust, was du anziehst, wobei du mitmachst und wo nicht. Zehntausend Individualisten vereint auf einer gemeinsamen Strecke zu einem gemeinsamen Erlebnis. Eine einzigartige Erfahrung.

Ganz umstandslos war sie freilich nicht zu haben. Mit dem 12-Wochen-Trainingsplan, den du dir über den Schreibtisch gehängt hast, war eine verwirrende Fülle an Informationen mitgekommen, die dich mehr irritiert als beruhigt hat. Laufstil, Ernährung, Kleidung, sonstige Ausrüstung, Wettkampfvorbereitung, Verhalten während des Laufs, Tipps zur Vermeidung von Krämpfen, Tipps für und gegen alles Mögliche – beherzigen oder ignorieren? Die richtige Antwort lautet: Es kann einem keiner abnehmen, herauszufinden, was für einen stimmt. Jeder läuft allein, sieh also selbst, was für dich richtig ist und was dir gut tut. Vieles spricht beispielsweise dafür, am Getränkestand nicht stehenzubleiben, sondern langsam während des Trinkens weiterzulaufen. Andere aber schwören darauf, dass es hilft, kurz in Ruhe zu trinken, um dann gestärkt sein Tempo wieder aufzunehmen und locker diejenigen einzuholen, die versucht haben, beides gleichzeitig zu tun. Individualität in der Menge: Was stimmt für dich? Was passt zu dir?

Lust und Erschöpfung
Laufen macht süchtig. Das ist oft zu hören, und die meisten Läufer(innen) werden es bestätigen. Die Sucht könnte darin bestehen, dass es beim Laufen gelingt, den eigenen Körper neu zu erleben und ein waches Gefühl für sich zu bekommen. Man lernt seinen Körper kennen, die «Maschine Körper», spürt jedesmal neu, in welcher Verfassung man ist. Der Körper lügt nicht, während der Geist gern dazu tendiert, es zu versuchen. Man sieht die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit und erlebt, dass man vom alltäglichen Leben eingeengt wird auf ein Maß, das nicht wirklich die eigenen Grenzen bezeichnet. Diese beweglichen Randzonen lernen wir im Lauf kennen, und es ist ihm eine immer neu zu erlebende berauschende Erfahrung – zu spüren, dass wir noch viel mehr können.

Fast die größte Hürde vor dem ersten Marathon besteht in der Unkenntnis, wie es einem ergehen wird auf dieser eindeutig zu langen Strecke. Die Bilder, die zur Beschreibung verwendet werden, sind ja drastisch genug (der Mann mit dem Hammer u.ä.). Wie wird sich das anfühlen? Wie ist es, «gegen eine Wand» anzulaufen? Wie wird es sein, wenn der Körper seine letzte Energie verzweifelt aus den Fettreserven zu ziehen versucht? Die Angst vor all dem Ungewissen erzeugt eine unbezähmbare Nervosität. Ein erster 30-Kilometer-Lauf hilft hier ungemein. Wenn man nie weiter als 21 km gelaufen ist, bedeuten zusätzliche 10 Kilometer einen Quantensprung. Diese Erfahrung, und zwar ebenso die Quälerei wie die Erkenntnis, dass es geht, hilft, die Hürde des Unbekannten auf ein akzeptables Maß zurechtzustutzen. Mehr muss nicht sein. Wer seinen ersten Marathon hinter sich hat, dürfte gefangengenommen sein von dieser unvergleichlichen Erlebnismischung aus Grenzüberschreitung und Disziplin, Lust und Mechanik, quälender Erschöpfung und absolutem Glück. Wer ihn noch nicht gelaufen ist, hat ein unbeschreibliches Erlebnis noch vor sich. Wie viele davon gibt es?

Du hast inzwischen die zweifelhafte Besteigung des selbst waschechten Hamburgern unbekannten Rothenbaumberges hinter dir. Später wirst du dich jedesmal wieder aufs Neue wundern, wie du aus dieser sanften Steigung so einen Anstieg machen konntest ... Nun um den Dammtorbahnhof herum, eingebogen in den unendlich langen Gorch-Fock-Wall, das wirst du jetzt auch noch schaffen. Du weißt nicht, wer für dich Schritt vor Schritt setzt, doch es geht, inzwischen hast du einen entrückten Zustand erreicht, der dich kaum noch etwas spüren lässt. Dann biegst du in die Zielgerade ein, siehst das ersehnte Transparent quer über der Straße, das ging ja schnell, denkst du irgendwie dem Wahn nahe, was hab ich mich so angestellt, und du spürst es nicht, aber du weißt es: Du hast es geschafft.

Gedränge, schwitzende Leiber, dir wird fast schwarz vor Augen, die anderen schieben dich weiter, der Stopp kam so plötzlich, während in dir alles noch mechanisch weiterläuft, vor allem der Kopf: Du bist Marathon gelaufen! Du hast das Ziel erreicht! Es liegt hinter dir! Wie in Trance stehst du auf wackeligen Beinen, taumelst, und zugleich siehst du in dir etwas wie einen Gummiball loshüpfen, es reißt die Arme hoch, lacht und strahlt und lässt sich feiern, ausgelassen. Du möchtest dich nur irgendwo festhalten, aber da ist nichts. Vor dir bilden sich Schlangen, anstellen für die Medaille, die sie euch umhängen, alle Läuferinnen bekommen noch eine Nelke in die Hand gedrückt, dann habt ihr auch dieses letzte Nadelöhr hinter euch. Das Gehen schmerzt, Stillstehen ist unmöglich, es wird dir kalt. Ihr wechselt ein paar Sätze, es ist mehr ein Stammeln, die Luft bleibt dir weg, ein Kloß sitzt im Hals. Krumm und schief und ausgepumpt stehen alle um euch herum da, die stolzen Finisher, manche sind sogar wirklich ganz gelassen, jeder hilft sich, so gut er kann. Ihr stapft mitten durch die liegende, sitzende, stehende Menge hindurch, geschäftig und abwesend, fix und fertig, glücklich, zerschlagen, stolz. Irgendwo spürst du den Ball in dir hüpfen. Er wird dir noch lange Flügel verleihen. Aber das weißt du erst viel später.