Arbeitsbeispiele

Rezension

Das Buch der Stunde: Adam Haslett trifft mitten ins Herz der Finanzkrise.
Erschienen in Rowohlt Revue, Herbst 2009, Reinbek

In der Woche, in der Adam Haslett das Manuskript zu seinem Roman „Union Atlantic“ abschloss, brach im September 2008 in den USA die Investmentbank Lehman Brothers zusammen. Dem Autor muss das vorgekommen sein, als klopfe der Leibhaftige an seine Tür. Fünf Jahre lang hatte er eine genau recherchierte und doch wie zynisch zugespitzt wirkende Romanhandlung über krumme internationale Börsengeschäfte entworfen, hatte beschrieben, wie solche Deals selbst die größten Banken ins Wanken bringen können – und nun standen das amerikanische Finanzsystem und bald darauf Banken und nationale Finanzwirtschaften weltweit vor dem Undenkbaren, dem Crash. Reality beats fiction. …

Offenbar brauchte es die Neugier und die Chuzpe eines selbstbewussten Debütanten, sich den Stoff für seinen ersten Roman mitten im Herz des Weltwirtschaftssystems zu suchen, bei der zentralen Finanzaufsicht, sowie im maßlosen Ehrgeiz von Regionalbanken, im hoch spekulativen Investmentgeschäft selbst eine große Nummer drehen zu wollen. Aktueller und exemplarischer ist unserer Welt und der gegenwärtigen Wirtschaftskrise jedenfalls noch von keinem Buch der Spiegel vorgehalten worden.

Und zwar literarisch. Dank der erzählerischen Kraft des Autors ist „Union Atlantic“ zu einem ergreifenden Epos über die westlichen Gesellschaften geworden. Seine Ausgangslage ist denkbar einfach. Mit dem 37-jährigen Doug und der Geschichtslehrerin im Ruhestand, Charlotte, stehen sich zwei Figuren gegenüber, die für Lebensentwürfe stehen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Hier die nur mit zwei Hunden im ehemaligen Ferienhaus der Eltern lebende Rentnerin, da der nirgendwo verwurzelte, zum allmächtigen Finanzjongleur aufgestiegene Banker. Mit einem protzigen Neubau wird Doug zum Nachbarn von Charlotte. Ihre erste Begegnung steckt mit einem kargen Wortwechsel die Linien der zukünftigen Auseinandersetzung ab. Er: „Guten Morgen. Das neue Haus da – gehört mir.“ Sie: „Wald. Ehe Sie hier erschienen sind. Alles Wald.“ Ein erbitterter Kampf zweier Wertordnungen hat begonnen.

Haslett dringt tief in die Psyche seiner Akteure vor, er will das ganze Drama zeigen, nicht Oberflächen kritisieren. Aufgewachsen mit einer jungen Mutter, die sich in den Alkohol flüchtet, schwört Doug sich, eines in seinem Leben niemals zuzulassen: Schwäche. Der Börsencocktail aus Rausch, Grauzone und Rendite ist dafür ideal. Charlotte repräsentiert die bürgerliche Mittel- und Oberschicht der Ostküste, kultiviert, auf Recht und Ordnung vertrauend. Haslett zeichnet sie als sympathisch verschrobene Alte, leicht wunderlich, wie man es in ihrem Alter sein darf.

Doug kann gar nicht anders als sie zu unterschätzen, ihr hellwacher, kämpferischer Geist ist ihr nicht anzusehen. Sie ist es, die aussprechen muss, was alle Übrigen sich nicht eingestehen wollen: Etwas ist auf dem Vormarsch. „Seit Jahren ereiferten sich die Medien über Brandanschläge im Nahen Osten (...), aber von den Augen der jungen Reichen und der dort dumpf schwelenden Gewalt sprach niemand.“ Charlotte verklagt die Gemeinde. Der Wald, den Doug für seine Villa roden ließ, hätte gar nicht verkauft werden dürfen: Ihr Großvater hatte ihn der Gemeinde als Stiftung übereignet.

„Union Atlantic“ ist vieles in einem, Gesellschaftsroman, Börsendrama, Parabel über die Verschleuderung von Werten zugunsten von purer Stärke und Macht. Vor allem anderen aber hat Haslett einen Familienroman geschrieben, freilich einen, in dem mehrere Geschichten parallel erzählt werden. Henry, Chef der US-Finanzaufsicht und Bruder von Charlotte, hat nicht nur dafür zu sorgen, dass Dougs First Atlantic Bank stabilisiert wird, zugleich müsste er Charlotte endlich den Weg in ein Pflegeheim schmackhaft machen. Mit leichter Hand verknüpft Haslett die ganz großen mit den privaten Themen.

Als Dougs irrwitziges Spekulationsgebäude in sich zusammenbricht, rechtfertigt er sich vor seinem Chef. „Der alte Pakt wird hinfällig. Zwischen Regierung, Unternehmen, Medien. Die ungeschriebenen Regeln, nach denen sich alle zu richten haben.“ Haslett ruft sie noch einmal auf, diese Werte und Regeln, mit denen nicht nur Amerika groß wurde. Selbstbewusstsein, Liberalität, Gültigkeit des Wortes, maßvolles Handeln, Verantwortung. Und immer wieder: Vertrauen. Fußt nicht die Finanzwelt selbst zu großen Teilen auf nichts anderem?

Mit der Wahl Bostons als Handlungsort führt Haslett den Leser an die Wiege des amerikanischen Selbstverständnisses. Und durch Charlottes Stimme erlaubt er es sich ein, zwei Mal dann doch, einen hohen Ton anzuschlagen: „Sieh dich doch um. Tritt einmal einen Augenblick zurück und sieh dir an, was in diesem Land vorgeht...“ Am Ende, so viel ist klar, werden alle Seiten verloren haben.

Adam Haslett, 1970 geboren, lebt als Anwalt und Schriftsteller in New York. Bislang lag nur ein Erzählband von ihm vor, der in den USA hoch gepriesen wurde. Wie um den Anspruch zu unterstreichen, mit dem Roman auch eine Bestandsaufnahme Amerikas während der Bush-Jahre zu liefern, verankert Haslett sein Werk zwischen zwei Aufsehen erregenden Ereignissen der Realpolitik. Eingangs sehen wir Doug als Soldaten an Bord des Kreuzers USS Vincennes, der im Juli 1988 am Rand des Iran-Irak-Kriegs durch den Abschuss eines mit 290 Menschen besetzten iranischen Airbus zu trauriger Berühmtheit gelangte. Am Romanende zieht er – mit gefälschtem Pass konnte er außer Landes fliehen – mit einem paramilitärischen Sicherheitsdienst parallel zum Einmarsch der Amerikaner im Frühjahr 2003 von Kuwait aus in den Irak ein.

Mit „Union Atlantic“ hat der jüngste Zeitabschnitt in Amerikas Gegenwart ein erstes gültiges Porträt gefunden. Wie John Updike, dem Chronisten der Mittelschicht seit den 1970ern, Thomas Pynchon als irrlichterndem Beobachter des modernen Amerika oder etwa Jonathan Franzen als Seismographen amerikanischer Lebensmodelle im 21. Jahrhundert, geht es Adam Haslett um eine literarische Analyse des Zustands der Gesellschaft. Sie fällt, vorsichtig formuliert, skeptisch aus. Der Autor lässt eine Romanfigur James Baldwin zitieren: „Die Leute bezahlen für das, was sie tun, und noch mehr für das, wozu sie sich haben machen lassen. Und der Preis, den sie zahlen müssen, ist sehr einfach: der Preis ist das Leben, das sie führen.“