Arbeitsbeispiele

Essay

Die Geburtsstunde des „dolce vita“
Edel Verlag, earBooks, Hamburg 2011

Von heute aus erscheint 1960 wie ein Schlüsseljahr. Es markiert das endgültige Ende der Nachkriegszeit und macht Platz für Neues, das bunt und laut die folgenden Jahre beherrschen sollte. Es ist die Geburtsstunde der Medien, wie wir sie kennen, das öffentliche Leben wird zum Boulevard. Für einen Wimpernschlag scheint das alles wie unschuldig vor uns zu liegen – das Leben ein schönes Spiel. Die Einfachheit, die fröhliche Feier dieses ersten Moments war danach nicht wieder zu erreichen. …

Als Schauplatz für diesen historischen Augenblick hat sich der Zeitgeist eine Kulisse ausgesucht, die das Umtriebige und den Aufbruch ebenso verkörpert wie das Schwelgen in großer Geschichte, Pathos, verbunden mit Leichtigkeit und selbstverständlicher Eleganz. Das konnte nur Rom sein, die Ewige Stadt, die sich doch jeden Tag neu erfindet.

Waren die fünfziger Jahre das Jahrzehnt von Wiederaufbau, Entbehrung und vor allem viel Arbeit, drängt in den Sechzigern eine neue Generation nach vorn, die die große Chance wittert, sich zu lösen von den Beschränkungen der zurückliegenden Jahre. Das Leben, so spürt man, kann auch angenehme Seiten haben, die es zu entdecken und endlich zu genießen gilt. Mit dem Tod von Papst Pius XII. im Jahre 1958 war die lähmende repressive Präsenz der katholischen Kirche gebrochen, eine Zeit der Befreiung aus erstarrten Rollen begann.

Das alles wäre heute freilich nur noch für Historiker und Soziologen interessant, hätte nicht ein Film diesem Jahr und noch mehr einer ganzen Epoche seine einzigartige Signatur verliehen: Federico Fellinis „La Dolce Vita“, 1960 veröffentlicht. Über das reale, gerade beginnende „süße Leben“ weit hinausgreifend, überspringt der Regisseur gleich ein gutes Jahrzehnt, und so trägt der Film die kritische Brechung dieses Moments des Aufbruchs bereits in sich. Er zeigt die Krisen der Hautevolee, wie sie ein Leben, das sinnentleert um Luxus, Ausschweifungen und Lustgewinn kreist, mit sich bringt.

Die Morgenluft des „dolce vita“ und das exhibitionistische „dolce far niente“, das süße Nichtstun, waren für Fellini damals schon nicht mehr voneinander zu trennen. In seinem Film zeichnet er das dekadente Porträt einer Schicht, für die gerade ein neuer Name erfunden worden war, einer, der heute nur noch charmant altbacken klingt: Jet Set. Nicht von ungefähr bezieht sich die Bezeichnung auf das moderne Langstreckenflugzeug, den Jet, dessen neue Triebwerke und größere Maschinen Ende der fünfziger Jahre die ersten Nonstop-Linienflüge über den Atlantik möglich machten – notwendige Voraussetzungen für ein Leben, das sich heute in Paris und London, morgen in New York, im Sommer in Acapulco und Saint-Tropez und im Winter in St. Moritz abspielte. Es waren immer die Gleichen, die sich trafen, doch erweiterte sich der Kreis dieser Happy Few nun um Schauspieler, Showstars, Modemacher und Künstler. Sie verliehen dem Jet Set jenen Glamour, der für immer neue, strahlende Bilder gut war.

Dass daraus einmal Vorbilder für ganze Bevölkerungskreise werden würden, war noch kaum abzusehen, und vielleicht nur deshalb konnten in jenem jungfräulichen römischen Augenblick ein 61-jähriger dänischer König lässig und doch stilvoll an einer Bar stehend fotografiert werden, oder die Schauspielerin Elsa Martinelli traute sich, ungeniert mit einem ausgewachsenen Leoparden an der Katzenleine zu posieren. (Wenn die blonde Jayne Mansfield in tief dekolletiertem weißem Abendkleid einen schwarzen Hengst küsst, ist die Grenze zur Hybris allerdings schon damals überschritten.)

Fast alle Fotoaufnahmen wurden im Freien gemacht, wie beiläufig, oft in Straßencafés, häufig auch direkt auf der Straße beziehungsweise auf einer Vespa oder im Auto. Die Straße, das Café und damit die Stadt selbst wird zur Bühne dieses neuen, scheinbar offenen Milieus, kein Bodyguard, keine Absperrung trennen den Betrachter von den Berühmtheiten. Dass 1960 die 30-jährige Princess Margret in London einen Fotografen heiratet, passt genau ins Bild jener klassenlosen Gesellschaft, die zum Greifen nah schien.

 

Aber das Rom jener Jahre war als Hauptstadt des Hedonismus auch die Geburtsstunde des Paparazzo: Die Kamera um den Hals gehängt, sitzt er auf dem Sozius eines kleinen Motorrads, um jederzeit als Erster am entscheidenden Ort sein zu können. Die Bilder, die er schießt, sind schwarz-weiß, und er bekommt das Objekt seiner Begierde ganz nah vor die Linse. Ein Schnappschuss, halb privat und intim, halb professionell und inszeniert. Mit der Jagd auf die Stars verwandelt sich eine beobachtende Kunstform über Nacht in ein überfallartiges Genre, Fotografieren wird zu „Action Photography“, der Neorealismus ist endgültig Geschichte.

Jeder kennt die Aufnahmen aus dieser Zeit, sie sind als Bildmarken in das öffentliche Gedächtnis eingegangen: Audrey Hepburn spaziert mit ihrem Yorkshire durch Rom, Jean-Paul Belmondo und Ursula Andress auf Einkaufstour in der Via Condotti, und das wohl sprechendste Foto: die Ekberg im Trevi-Brunnen. Trotz ihrer Inszeniertheit erschöpfen sich viele Bilder nicht in der Pose, etwas Lebendiges, Unmittelbares, ja Leichtes scheint in ihnen bewahrt.

Protagonist von Fellinis „La Dolce Vita“ ist ein Klatschreporter, der sich jeden Abend von Neuem auf die Suche begibt nach den „süßen“ Geheimnissen der Prominenten, einen Schwarm von Fotografen an seinen Fersen – Fellini war es übrigens auch, der für die Figur des aufdringlichen Bildreporters den Namen Paparazzo erfand. Der Film nimmt das dekadente Treiben ins Visier und spürt dem Umkippen von Leerlauf in Lebensangst nach.

Leicht verwechselt man das Bild, das Fellini dieser Zeit in seinem filmischen Meisterwerk gegeben hat, mit der Floskel vom „dolce vita“, die heute besonders den Deutschen so selbstironisch wie sehnsuchtsvoll über die Lippen geht. Der Regisseur hat keineswegs einfach „abgefilmt“, was damals stattfand. Eher umgekehrt: Eigentlich sind Ruhm und der mondäne Ruf, der damals insbesondere der Via Veneto, dem zentralen Schauplatz des Films, anhafteten, eine Erfindung des Regisseurs. Seit dem Skandal, den der Film im katholischen Italien auslöste, waren die Cafés, Hotels und exklusiven Bars der Via Veneto ein Muss für jeden, der im Nachtleben Roms etwas gelten wollte.

Für Federico Fellini war „La Dolce Vita“ die erste Arbeit als Regisseur in den berühmten Cinecittà-Studios. Die amerikanischen Filmfabriken suchten nach Wegen, die immens hohen Kosten in Hollywood zu umgehen, daraus entwickelte sich die große Zeit der Filmwerkstatt im Südosten Roms.

Dank des Films als Triebfeder des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens wurde die gesamte Stadt damals kurz zum Nabel der großen Welt: Hollywood am Tiber. Direkt und offen wie hier war das Leben der Reichen und Schönen nirgendwo anders zu erleben.

Fellinis Blick auf seine Figuren ist so hellsichtig wie kritisch, freilich immer bereit zum ganz großen Bild. Auf diese Weise hat er bleibende Momente der Filmgeschichte geschaffen, dessen berühmtester sicherlich Anita Ekbergs Bad in der Fontana di Trevi ist. Für Fellini bricht mit dem Film eine strahlende, künstlerisch kraftvolle Zukunft an; die skeptische Einstellung seines Helden wird dadurch keine Spur weniger eindringlich. Wie weit Regisseur und Film ihrer Zeit voraus waren, fasziniert bis heute. Der gesellschaftliche Aufbruch, die Rebellion der Jugend und der Umbruch in den Künsten hatten da noch gar nicht richtig begonnen.